TATTOO LINES

Die Eltern wurden aus ihrer 70er-Jahre-Vorgartenidylle katapultiert, als Gisela, ihre 23-jährige Tochter zum Weihnachtsbesuch aus der Großstadt kam und angeblich zufällig das harmlose Mickey-Mouse-Tattoo am Schlüsselbein lupfte. Ein zweites Winnie Puh-Motiv war bereits in Umrissen zu erkennen.

Mutter hatte zum ersten Mal ein echtes Tattoo aus der Nähe gesehen, Vater ging in den Keller und suchte nach einem längst verschollenen Bierkasten, der vom letzten Umbau übrig geblieben war.

Nun war professionelle Hilfe gefragt. Doch zuvor galt Alarmstufe Rot, denn die Nachbarn hatten sich zum Nachmittagskaffee am zweiten Weihnachtsfeiertag angekündigt.

Mutter holte einen alten Rollkragenpullover aus dem Jugendschrank und gab ihn ihrer Tochter. In der Hoffnung, dass Gisela den Pulli in den überheizten Räumen nicht ausziehen würde.

Gisela irritierte gerne, indem sie sich Tattoos an sichtbare Stellen wie Unterarm, Hals oder Knöchel stechen ließ. Auch Tätowierungen mit eindeutigen oder provozierenden Inhalten wie politischen Aussagen oder Obszönitäten dokumentiere sie auf diese Weise gewissenhaft.

Mit 14 wollte sie Fotokünstlerin werden und wünschte sich eine Nikon. Sie bekam eine Polaroid. – Das wurde dann auch Ihr erstes Tattoo-Motiv. Es folgten Wonderwoman, Magnolia, Katze „Harry“, Meerjungfrau, Sonne, Blumenpflaster…

Mutter sprach seit dem kein Wort mehr mit ihr. Hatte sie doch ihren Horst aufgrund eines Marinetattoos verlassen.

Horst wollte schon immer Seemann werden und träumte vom Meer, Tigerakrobatik und Mexico. Früher auch schon mal von Anita, aber das ist lange her.

„Der Typ mit dem Segelschiff ist nicht mein Vater, aber alle denken es.“

Rainbow hatte ein Faible für Captain Future. Simon konnte sie nicht leiden.

Er war noch nie im sibirischen Knast, aber die Bilder erzählen eine andere Geschichte. – Wer findet die Pommes?